Billie Eilish – when we all fall asleep, where do we go? (LP) | Review

Review zu „when we all fall asleep, where do we go?“ von Billie Eilish | Kein anderes Album hat in den letzten Monaten derart viel Aufmerksamkeit bekommen wie das Debüt der 17-Jährigen Billie Eilish, die sowohl die Pop- als auch die Indie-Welt in ihren Bann zieht. Ein klarer Fall für Lorator und den Hype Check.

Manche Alben muss man nicht anhören, um ein Bild von ihnen zu bekommen. Allein die Namen und Titel sagen schon genug aus. Das Auge hört schließlich mit.
Wer schwache Nerven hat und nachts gerne schläft sollte aber lieber mit geschlossenen Augen genießen und das Albumcover abkleben.

Bevor ich also das Debütalbum von Billie Eilish anhöre, sinniere ich über den Titel, dessen Thematik mich schon so manche Nacht nicht schlafen ließ. Wohin gehen wir denn, wenn wir nicht mehr wach sind? Vielleicht in eine ganz unbekannte Welt, an die wir uns einfach nicht mehr erinnern können. Vielleicht jede Nacht die größte erdenkliche Party, ohne Folgekater, weil wir ein Elixier trinken, dass zwar die Kopf- und Gliederschmerzen tilgt, dafür aber auch jegliche Erinnerung. Vielleicht schafft Billie Eilish es ja aber auch, uns dorthin mitzunehmen und das Vergessene zurück in unsere Herzen zu tragen.

Eine Ansage ist das Album allemal, beginnt es doch mit einem siebenfachen Exklamationszeichen.
Ich entscheide mich dazu, doch einmal mit nun gedankenschwerem Geist reinzuhören.
Zwei Leute labern, ich verstehe kein Wort, Gelächter. Schön, man sollte sich und seine Alben, und mögen die Erwartungen noch so hoch sein, nicht zu ernst nehmen. Dann brummt der Bass beziehungsweise der Synthesizer los.
Ein leichtes Gesumme und Gemurmel, Billie spielt mit dem Beat und lädt sich selbst als siebenfacher Alter Ego dazu ein. Der gesangliche Freundeskreis lässt verbunden mit dem zügigen Takt „Bad guy“ zu einem gut tanzbaren Einstiegstrack werden. Die Grundmelodien könnte man dabei auch in Super Mario laden, sollte wie heutzutage üblich eine MEGA Version des Albums als Neurelease rausgehauen werden. Grundsolider stampfender Bass mit säuselnder Stimme darüber. Meine Hüften schwingen im Sessel und stellen sich vor, auf der Tanzfläche in guter Gesellschaft frei zu sein. Auch effektgeladene Stimmverzerrungen fehlen nicht, die Worte, irgendwo in der Sphäre zwischen Hauchen und Raunen klingen wie 2 Zentimeter vom Ohr entfernt und durchsetzen die Grundmelodie mit gezielten Stichen. Mit Dubstep als Grundlage erinnern mich die Beats zum Teil an Hip-Hop, Billie Eilish scheint jedoch zu faul zum Rappen, eigentlich ist der Song mit den paar Worten aber eh viel interessanter. Die Siebzehnjährige denkt sie wäre ein bad guy. Kann ich nicht beurteilen, dafür aber bestätigen, dass sie eine schöne Stimme hat.

Auch wenn ich nicht weiß, was eine Xanny sein soll, habe ich nun ein Klangbild davon. Mit einer weich raunenden Stimme beginnt Billie die Umschreibung. Die einsetzenden gegenspielenden Synthesizer-Gesangsparts erinnern noch am ehesten an The Acid. Spannend sind vor allem die kleinen Brüche, die von echten Instrumenten souffliert werden und die Stimmung schwanken lassen. In Teilen Lordelike (geiles wort) kommt mir am ehesten in den Sinn. Die Klaviatur lässt es niedlich und elegant klingen, Norah Jones sagt Hallo, der Bass und verzerrter Gesang holen das Stück aber ganz schnell aus dieser Gefahrenzone zurück. Schlagzeug, Slow Dance, cool.
Ich befinde „Xanny“ als beste Kreuzung zwischen niedlich und cool, seitdem es Stranger Things gibt. Kommt es im Soundtrack? Würde mich nicht wundern.
Billies Flüstern reicht, um den Faden in der Hand zu behalten. Das Summen ihrer Stimmbänder, oder wo auch immer diese Klänge entstehen, reicht schon als Unterhaltungswert. Schön, dass nicht zu viel Scheiße darüber gespielt werden muss.

„You should see me in a crown“ titelt der neue Stern am Pophimmel. Das Bild kann man ergoogeln, sieht ganz nett aus, auch wenn die Sängerin darauf gelangweilter als die Queen bei Harrys Hochzeit wirkt.
Das klangliche Bild ist da schon ein anderes.
Ein Anfangston wie der Startton eines PCs, atmosphärisch und allumfassend. Billies Stimme nimmt die Stimmung auf, lässt den Song beschwörend langsam voranschreiten und leitet eine drastische Rhythmusänderung ein. Dubstep und Refrain. Aber immer wieder tauchen unerwartete Momente wie ein verzerrtes Rufen aus dem Hintergrund auf, die gezielt eingespeist werden. Gelungene Pausen bieten eine negative Energie, da das, was fehlt, im nächsten Moment voll auf einen einströmt. Es ist ein Sog des Folgenden.
“All the good girls go to hell” lässt die Fantasie spielen.
Glocken – Kirche – Horrorstimme – nein, ganz im Gegenteil. Nicht mehr die rein lässigen, coolen ruhigen Bässe und tiefer Flüstergesang. Fröhliche Klavieruntermalung. “My Lucifer is lonely” heißt es mehrfach. Was macht der Teufel wenn er einsam ist? Holt er Billie ins Boot?
Ihre Stimme klingt nicht gruselig, sondern erwachsen und erhaben. Moderner Tiefenpop.

Einfach ein Song mit viel Hitpotential. Schadet das einem Album? Kann schon sein. Dafür sind immer wieder Gesprächsfetzen darin, die das Ganze etwas auflockern. Die Erwachsenheit äußert sich paradoxerweise in der nicht zu großen Ernsthaftigkeit.
„Wish you were gay“ ist zugegebenermaßen ein erfrischender Songtitel. Seit den 70ern hat man sich in den Charts also von „here“ zu „gay“ entwickelt. Dass so mancher CSUler homosexuell wäre, könnte man sich manchmal vielleicht tatsächlich wünschen, um ein bisschen mehr Toleranz zu erzielen. Trotzdem ein trauriges Bild, dass Gott solche Mittel ergreifen müsste, um ein besseres Miteinander zu ermöglichen.

„When the party is over“ klingt auch so wie der Zustand, wenn die Party vorüber ist. Mit einprägsamer Stimme versucht Billie den musikalischen Kater wegzusingen. Keine zu tiefen Töne oder Bässe sollen hier den Schmerz provozieren. Die Songs davor waren Tanzveranstaltung genug.
Was die Niedlichkeit anbelangt spitzt sich das Level bei „8“ nochmals zu. Wurden hier tatsächlich Aufnahmen gefunden, auf denen die Künstlerin acht Jahre alt war und dann eingebunden? An sich ist die US-Amerikanerin ja noch gar nicht allzu weit davon entfernt. Ich kann es immer noch kaum fassen, dass Menschen, geboren in diesem Jahrtausend tatsächlich erwachsen sind.
Wie dem auch sei macht neben der Kinderstimme eine Ukulele den Song zu einem Kopfwipper. Billie wird aus acht 17 und auch ihr Gesang schafft den Wandel. Stimmlich ist die Wunderblume der Weltcharts allemal erwachsen. Neben Elementen von Gesprächssequenzen kommen Dancemuster vor, wie sie in den frühen 2000ern populär waren und deren musikalisch korrekte Bezeichnung ich nicht kenne. Nennen wir es Aguilerapop.

Angenehm ist die auf weiten Strecken des Albums beachtliche Dezenz (wenn es das Substantiv nicht gibt, sollte man es mal einführen) der Hintergrundbeats und -rhythmen, über die sich Billie Eilish mal süßlich, mal herzhaft dominierend bewegt.
Das Album schließt wie die meisten One-Night-Stands: 4:54 Minuten „I love you“ und abschließend 2 Minuten „goodbye“. Mit dem Vorspiel waren es 43 Minuten gute Unterhaltung.

Wiiiiild! Hört euch nun das Album an und entscheidet, ob ihr ähnlich urteilt.


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